Ich bin das Mami des Teams

ein benzenschwiler sorgt dafür, dass die besten schweizer bob-piloten fit sind

 

 

Jürg Röthlisberger ist medizinischer Masseur. In Benzenschwil führt er seine eigene Praxis. So weit nichts Spezielles. Aber er massiert nicht nur Privatpersonen, etwa nach Unfällen, sondern auch Sportler. Sieben Wochen war er diesen Winter mit der Bob-Nati unterwegs. Und dabei ist er mehr als Masseur.

Annemarie Keusch
(Wohler Anzeiger, 13.03.2020)


Dass Bob schon immer Jürg Röthlisbergers Lieblingssportart gewesen ist, wäre übertrieben. Dass es sein Ziel war, Masseur der Bob-Nationalmannschaft zu werden, auch. Aber mittlerweile ist er es. Röthlisberger, der in Villmergen aufwuchs und mittlerweile in Benzenschwil lebt und arbeitet, spricht von einigen Zufällen oder glücklichen Fügungen. Eine Fügung wars, dass er nach einem Sportunfall von einem medizinischen Masseur versorgt wurde und so dieses Berufsfeld überhaupt kennenlernte. Zufall wars, dass er nach der Ausbildung zum Masseur als Therapeut bei der Spitzensport-RS eingeteilt wurde. Und eine glückliche Fügung wars, dass er dort mit Bob-Trainern in Kontakt kam.

Aber ganz fremd war der Bob-Weltcup dem 30-Jährigen nie. «Ich bin sehr Sportinteressiert und das querbeet», sagt er. Die glorreichen Zeiten der Schweizer Bobpiloten, mit Medaillen an den olymischen Spielen, hat Röthlisberger mitverfolgt, am Fernseher. Kam hinzu, dass einer seiner Cousins in der Schweiz Bobrennen fuhr. Und kam hinzu, dass Röthlisberger seit Jahrzehnten Teil der Turnerfamilie ist und viele Bobpiloten, Anschieber oder Bremser einen Hintergrund im Turnen haben.

UNTERSTÜTZUNG DES CHEFTRAINERS

Die goldenen Zeiten, sie sind vorbei. Röthlisberger erklärt es als eine Art Zyklus. «Wir sind jetzt daran, ganz junge Pilotinnen und Piloten aufzubauen», sagt er. Erfahrung sei in der Bahn unglaublich wichtig. Teil dieses Teams zu sein, gefällt Jürg Röthlisberger sehr. Er ist ein wichtiges Puzzleteil, dass der Bob-Nation Schweiz bald wieder Erfolge beschert werden. Teilweise wird er bei Trainingslagern zugezogen. Letzte Saison begleitete er das Team während sieben Wochen im Weltcup. «In der ersten Hälfte der Woche, wenn die Rennen am Wochenende sind, schaue ich dafür, dass die Muskeln der Athletinnen und Athleten möglichst entspannt sind», sagt er. Das gehe aber nur bis 48 Stunden vor dem Wettkampf. «Sonst wären die Muskeln zu schlapp, wenn das Rennen beginnt.

Jürg Röthlisberger ist dabei nicht nur gefragt, wenn es darum geht, kleine Verletzungen zu behandeln oder die Muskeln zu lockern. Jeweils morgens steht er mit dem Cheftrainer an der Bahn – zur Unterstützung. Und der medizinische Masseur ist vor allem nach den Rennen gefragt. «Regeneration ist sehr wichtig, aus therapeutischer Sicht nicht weniger wichtig als das Training.»

LIZENZ FÜR EUROPA-
UND WELTCUP-RENNEN

Und eben, Jürg Röthlisberger ist nicht nur von medizinischer und technischer Seite her wichtig für das Team. «Ich bin wie das Mami des Teams», sagt er und lacht. Die Athletinnen und Athleten – im Bobsport sind Frauen und Männer im Weltcup gemeinsam unterwegs – kommen mit verschiedensten Problemen zu ihm. «Manchmal kommen sie in die Massage und wollen eigentlich nur reden.» Für Röthlisberger ist es ein wichtiger Aspekt seiner Arbeit und einer, der ihm zusagt und gefällt. Entsprechend überrascht es nicht, wenn er sagt: «Wir sind wie eine grosse Familie im Bob-Weltcup.» Die Pilotinnen und Piloten und das ganze Team rundherum erleben viel gemeinsam. «Es entstehen wunderbare Freundschaften.»

Und für Jürg Röthlisberger bringt der Alltag mit der Bob-Nationalmannschaft immer wieder Herausforderungen. «Um wissen zu können, wie es sich in einem Bob anfühlt, um Gespräche mit den Athleten auf Augenhöhe führen  zu können, musste ich natürlich selber die Bobbahn runterfahren», sagt er. In Winterberg, als Bremser, war das erste Mal. «Ganz speziell, weil ich es mir nicht richtig vorstellen konnte», sagt er. Mittlerweile brettert er ab und zu die Bahnen runter. Muss er auch, denn in Notfällen kommt er zum Einsatz. Röthlisberger hat eine Lizenz, dass er als Bremser im Europa- und Weltcup Rennen fahren kann. «Wenn es viele Verletzte gibt im Team, kann es soweit kommen», sagt er. Bisher blieb diese Eventualität aus.

NACH DER SAISON
MEHR ZEIT FÜR SICH

Seit zwei Jahren ist Jürg Röthlisberger Teil des Bob-Nationalteams. Er ist also ein Neuling, wie es die jungen Piloten sind. Und er hat ähnliche Ziele. Röthlisberger will als Masseur des Teams an die Olympischen Spiele in Peking 2022. Aus einem Team von fünf Masseuren wird er sich qualifizieren müssen, wie die aktiven Sportlerinnen und Sportler. «Das wäre sicher eine unglaubliche Erfahrung», sagt er.

Zuerst aber kann sich der 30-Jährige auf seine Praxis in Benzenschwil konzentrieren. Im Sommer sind die Einsätze mit dem Bob-Team selten. «Es gibt einige Athleten, die mich das ganze Jahr hier besuchen, andere sehe ich erst wieder in Trainingslagern.» Heisst, seit die Saison vorbei ist, hat Röthlisberger wieder mehr Zeit für sich, Zeit für das Turnen beim TV Merenschwand, Zeit für seine langjährige Freundin, Zeit um zu fotografieren und Zeit, um auch einmal alleine zu sein.